Die Sonderausstellung «Von Menschen und Maschinen» in der Halle von SBB Historic in Windisch zeigt seit Ende Oktober die Erfolgsgeschichte der Aargauer Industriepioniere. Dr. phil. Rudolf Velhagen, Chefkurator Sammlung und Ausstellungen Museum Aargau, möchte dabei mit einer visuell ansprechend gestalteten Ausstellung die Neugierde bei den Besuchern wecken. Auf dem Streifzug durch die Aargauer Industriegeschichte werden sowohl die grosse Innovationskraft wie auch die internationale Vernetzung und der Export des Aargaus als auch das jetzige Zeitalter der Digitalisierung erlebbar gemacht.
Museum Aargau zeigt seit dem 23. Oktober 2020 die Sonderausstellung «Von Menschen und Maschinen» in der Halle von SBB Historic in Windisch. Wie ist die Ausstellung bis jetzt angelaufen und welche Feedbacks haben Sie erhalten?
Rudolf Velhagen: Die vom Frühjahr in diesen Herbst verschobene Eröffnung der Ausstellung «Von Menschen und Maschinen» ist erneut mitten in die Corona-Krise gefallen. Dies bemerken wir auch in Bezug auf die anfänglich zögerlichen Besucherzahlen. Doch die «Mund-zu-Mund-Propaganda» wie auch die effektiven Werbemassnahmen von Museum Aargau führten dazu, dass nun merklich mehr Besucherinnen und Besucher die Ausstellung «unbedingt» sehen möchten. Der spektakuläre «Spiegelsaal der Objekte» löst dabei bei fast allen Besucher/innen ein grosses Staunen aus: Tatsächlich waren industriegeschichtliche Objekte – Maschinen und Konsumprodukte – noch nie in Form einer solchen einzigartigen Verspiegelung zu sehen. Auch die sorgfältig inszenierten Lebenswelten-Szenografien von Patrons und Arbeiter stossen auf Begeisterung: In dieser Ausstellung werden Objekt- und Lebenswelten nicht einzig gezeigt, also zur Schau gestellt, sondern direkt und überraschend erlebbar gemacht und dies immer mit einem Bezug in unsere heutige Lebensrealität.
Welche Idee steckt hinter dieser Sonderausstellung?
Seit rund 15 Jahren sammelt Museum Aargau schwerpunktmässig industriegeschichtliche Objekte. Diese waren bis jetzt einzig im Sammlungszentrum zu sehen, das zurzeit ein Mal pro Monat seine Türen öffnet. Schon seit einigen Jahren wollte Museum Aargau diesen Sammlungsschwerpunkt in Form einer Ausstellung einem breiteren Publikum vorstellen. Der 2018 gegründete Verein «Netzwerk Industriewelt Aargau» (NIWA) hat sich zum Ziel gesetzt, die Bedeutung der Aargauer Industriegeschichte wissenschaftlich aufzuarbeiten und in Form von Ausstellungen, Veranstaltungen und Publikationen zu vermitteln.
Im Aargau wurden 13 der 100 grössten Industrieunternehmen geründet. Wieso haben sich gerade im Aargau so viele namhafte Unternehmen angesiedelt?
Kurzum: Der Aargau bietet ein inspirierendes Umfeld. Neben unternehmerischen Aspekten mag die günstige Lage des Aargaus, aber auch die Nähe der Natur aus meiner Sicht eine entscheidende Rolle spielen.
An der Ausstellung wird auch aufgezeigt, was im Aargau erfunden und patentiert wurde. Wieso ist die Aargauer Industrie (auch heute noch) so innovativ?
Die Innovationskraft der Aargauer Industrie ist tatsächlich beeindruckend. Wie schon erwähnt, ist es aus meiner Sicht ein Mix aus Vernetzung und «Naturnähe»: Schliesslich steht am Anfang der Industrialisierung der Bauernhof, der Effizienz der zahlreichen Arbeitsabläufe fordert. Die dort angesiedelte Heimarbeit führte zudem zur maximalen Nutzung der «personellen» und zeitlichen Ressourcen, die auch in der Industrialisierung eine grosse Rolle spielen.
Was hat damals die Aargauer Industrie ausgezeichnet?
Es beeindruckt mich immer wieder, wie früh die Aargauer Industrie international vernetzt war: Von einem ländlich-isolierten Kanton keine Spur! Die Strohindustrie beispielsweise exportierte weltweit – von Paris bis New York – und die Tabakpflanzen wuchsen auch nicht vor der Haustür, sondern kamen aus Übersee. 1891 gründete der Erfinder und Ingenieur Charles Eugene Lancelot Brown zusammen mit Walter Boveri in Baden die Firma Brown, Boveri & Cie. (BBC). Sein Bruder, Sidney William Brown zog ebenfalls nach Baden und arbeitete als technischer Leiter und Delegierter des Verwaltungsrats der BBC. Die beiden Brüder stammten vom englischen Ingenieur Charles Brown sen. und der Winterthurer Bürgerin Eugenie Pfau ab. Die Firma florierte bald und entwickelte sich zu einem Weltkonzern (seit 1988 unter dem Namen ABB). Schon diese wenigen Beispiele veranschaulichen die internationale Anziehungskraft und Ausstrahlung des Kantons Aargau, die im Übrigen bis heute andauern.
Der Aargau gilt auch als Möbel- und Haushaltswaren-Kanton. Was hat es damit auf sich?
Die Möbelproduktion ist im 20. Jahrhundert ein bedeutender Zweig der Industriekultur im Aargau geworden. Zu erwähnen sind hier das Möbelhaus Traugott Simmen & Cie in Brugg während seiner künstlerischen Leitung unter Hans Buser (1924–1957), die Ateliergemeinschaft von Albert Nauer und Alfred Vogel (1942–1978) mit einem Büro und einem Laden in Zürich und die Möbelfabrik Ströbel AG in Frick unter der künstlerischen Leitung von Adolf Suter (1945–1965). Der Einfluss des skandinavischen Designs mit einer Vorliebe für Holz ist unverkennbar, doch die in den 70er Jahren aufkommenden neuen Materialien Metall, Leder, Glas und Kunststoff verdrängten den Werkstoff Holz, so dass die Aargauer Möbelproduzenten sowohl materiell und geschmacklich in Rückstand gerieten. Eine Ausstellung zum «Neuen Wohnen» im Aargau ist mehr als wünschenswert.
Sie wollen mit der Sonderausstellung eine Brücke zur jetzigen Zeit und der aktuellen Transformation bauen. Wie ist Ihnen dies gelungen?
Die Ausstellung «Von Menschen und Maschinen» geht von drei Grundüberlegungen aus:
- Wie bedingen sich Kontinuität und Wandel in der Industriegeschichte, und welche Rolle spielt dabei technologische Innovation.
- Welche Bedeutung hat das «Konsumprodukt» im Zeitalter der unbegrenzten Reproduzierbarkeit? In welchem Verhältnis stehen dabei Industrialisierung, Konsum und Ökonomisierung unseres Alltagslebens (Optimierung, Effizienz, Schnelligkeit)?
- Wie werden wir morgen angesichts der aktuellen Herausforderungen produzieren, arbeiten und konsumieren?
Die Fragen verdeutlichen, dass die Ausstellung «Von Menschen und Maschinen» Lebens-, Arbeits- und Objektwelten immer mit gesellschaftlichen Überlegungen verknüpft und somit einen Zeitsprung in die Gegenwart macht. Dies erfolgt mit einer Ausstellungs-App, die zum Beispiel bei den ausgestellten Fahrrädern die Frage stellt, welche Bedeutung für den Besuchenden Mobilität hat. Die aktuelle Situation zeigt, dass unsere «mobile Gewohnheiten» rasch ändern können und keineswegs selbstverständlich sind.
Wie hängt die Industriegeschichte mit den gesellschaftlichen Entwicklungen im Kanton Aargau zusammen?
Ich denke, dass der Kanton Aargau ein sehr spannendes, leider noch zu wenig erforschtes Untersuchungsfeld in Bezug auf Industriegeschichte und gesellschaftliche Entwicklungen ist. Mit der Gründung der BBC in Baden und der unmittelbar erfolgten Elektrifizierung des Aargaus Ende 19. Jh. wurde beispielsweise ein bedeutender Umbruch eingeleitet, der vergleichbar ist mit der Digitalisierung und der Robotic zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Nicht umsonst ist im letzten Teil der Ausstellung ein kollaborativer Roboter, ein sogenannter Coboter einer Aargauer Firma ausgestellt. Es stellt sich somit tatsächlich die Frage, wie sich Kontinuität und Wandel in Industrie und Gesellschaft bedingen. Dabei spielt wohl auch das Bedürfnis des Menschen, seine Lebensumstände zu verbessern, eine grosse Rolle – wer kann sich heute ein Leben ohne Elektrizität vorstellen?
Am Schluss werden die Besucherinnen und Besucher zum Mitgestalten miteinbezogen. Was steckt hinter diesem Schlusspunkt?
In der sogenannten «Arena», welches den letzten Ausstellungsteil bildet, können Besucherinnen und Besucher auf analoge oder virtuelle Weise (Social Media) «Stellung beziehen». Eine sogenannte Statement-Wand mit Behauptungen von berühmten CEO’s, aber auch von «Normalverbraucherinnen und -verbrauchern» vermittelt Anregungen und Denkanstösse. Dank seiner Grösse kann der Raum auch gut für Workshops mit Gruppen und Schulklassen verwendet werden. Es freut uns zu sehen, dass die Arena auch zum Diskutieren und manchmal auch zum Sinnieren an den Tischen verwendet wird. Die Ausstellung regt zum Nachdenken an und dafür ist ein Stuhl manchmal notwendig.
Wieso lohnt es sich, diese Sonderausstellung in Windisch zu besuchen?
Wir befinden uns in einer Phase des gesellschaftlichen Umbruchs, die zweifellos durch die aktuelle Corona-Krise beschleunigt wird. Die Bronzeplastik «Der grosse Arbeiter» des berühmten Schweizer Plastikers Hans Josephsohn bildet den Schlusspunkt der Ausstellung «Von Menschen und Maschinen»: Am Schluss geht es um den Menschen, der entscheiden wird, wie er in Zukunft arbeiten und konsumieren wird und welchen Umgang er mit Digitalität, Robotic und Cobotic haben wird. In diesem Sinne ist der Ausstellungstitel «Von Menschen und Maschinen» Programm.
Interview: Corinne Remund
«Von Menschen und Maschinen»
23.Oktober 2020 bis 1. Mai 2021
Di-So: 13 bis 19 Uhr, Montag geschlossen
SBB Historic-Gebäude in Windisch (Nähe Bahnhof Brugg, 8 Minuten Fussweg)
Die Ausstellung ist barrierefrei und per Lift erreichbar.
www.museumaargau.ch