«Grundsätzlich kann jede Person akoholabhängig werden»

    Ob bei speziellen Anlässen, Feiern oder am Stammtisch, jeder fünfte Schweizer konsumiert Alkohol, und zwar missbräuchlich. Laut der schweizerischen Koordination- und Fachstelle für Sucht sterben jährlich 1600 Menschen an den Folgen ihres Alkoholkonsums. Dennoch ist Alkohol legal käuflich. Sharon Katz, Sozialarbeiterin und stellvertretende Geschäftsleiterin bei der Suchtberatungsstelle BZBplus, gibt Auskunft.

    (Bild: zVg) Die Suchtberatungsstelle BZBplus befindet sich in Baden in der Nähe des Lindenplatzes.

    CH3CH2OH – Eine chemische Formel, die auf den ersten Blick unscheinbar und fremd erscheint. Die umgangssprachliche Bezeichnung dagegen ist fester Bestandteil in unserem gesellschaftlichen Zusammenleben: Alkohol. Als Genuss-, Rausch- und Nahrungsmittel hat Alkohol eine jahrtausendealte Tradition. Und genau das ist gefährlich. Die gesellschaftliche Akzeptanz trübt die Sicht auf Alkohol. Sharon Katz, Sozialberaterin, arbeitet seit 27 Jahren bei der Suchtberatungsstelle BZBplus. Im Interview gibt sie Einblick in die Alkohol-Problematik.

    Alkohol wird von der ganzen Gesellschaft akzeptiert: Wie steht es mit dem Alkoholkonsum in der Schweiz?
    Sharon Katz: Alkohol wird von der Schweizer Gesellschaft mehrheitlich akzeptiert, es gehört bei Feiern, Ritualen oder Arbeitsapéros dazu. Der Alkohol spielt übrigens nicht nur in der Kultur eine Rolle, sondern auch in gewissen Religionen. Jede fünfte Person in der Schweiz trinkt missbräuchlich Alkohol, d.h., sie trinkt regelmässig, zu viel, zu oft und zur falschen Zeit. Vergleicht man den Alkoholkonsum über die letzten Jahre, hat sich aber eine gewisse Sensibilisierung in der Gesellschaft breit gemacht. Dies sieht man heute beispielsweise an dem grossen Sortiment von nicht-alkoholischen Getränken.

    Ab wann hat man ein Alkoholproblem?
    Es gibt verschiedene Kriterien, die auf ein Alkoholproblem hindeuten, zum Beispiel: Wiederholungszwang, Toleranzentwicklung, Kontrollverlust, Entzugssymptome oder Vernachlässigung anderer Tätigkeiten. Dennoch ist es in der Realität schwierig, ein Alkoholproblem zu erkennen. Dies liegt zum einen daran, dass aufgrund der Legalisierung von Alkohol, oftmals die Gefahren ausgehend von Alkohol übersehen oder ignoriert werden. Zum anderen ist der Übergang in eine Sucht fliessend. Der Suchtverlauf entwickelt sich über verschiedene Phasen. Die erste ist das Experimentieren, dies wandelt sich dann in Genuss, weiter zum regelmässigen Konsum. Die nächste Phase ist die des Missbrauchs, welche letztlich in der Phase der Sucht endet.

    Wie stehen Sie zu der Aussage «Mut antrinken»?
    Alkohol hat unter anderem die Wirkung, erst mal aufzulockern und zu enthemmen. Das kann aber schnell auch in eine unerwünschte Richtung wechseln (z.B. Aggressionen etc.). Bei der Aussage «Mut antrinken» wird Alkohol als Zweck missbraucht. Dies ist ein Faktor, der zur Abhängigkeit führen kann. Deshalb ist es viel wichtiger, andere Methoden zu finden, mit eigenen Gefühlen umzugehen.

    Was macht süchtiger, die Substanz Alkohol oder «die schönen Momente», die man mit Alkohol verbindet?
    Ich finde es schwierig zu sagen, dass die meisten Menschen Alkohol nur mit «schönen Momenten» verbinden. Alkohol wird auch häufig missbraucht, um mit seinen eigenen Gefühlen und Problemen umzugehen.
    Klar kann Alkohol auch «schöne Momente» auslösen, die Menschen vielleicht dazu animieren mehr Alkohol zu trinken. Diese «schönen Momente» entstehen dabei durch die Freisetzung des Botenstoffes Dopamin, was zu einer Aktivierung des Belohnungssystems führt. Dies kann letztlich in einer Abhängigkeit münden. Man kann also nicht sagen, dass es nur an der Substanz liegt, sondern an beiden Faktoren. Sie sind eng aneinandergekoppelt und die Kombination aus beidem macht schlussendlich süchtig.

    Gibt es Leute, die anfälliger sind, in eine Alkoholsucht zu geraten?
    Grundsätzlich kann jede Person alkoholabhängig werden. Es gibt aber Faktoren, die eine Abhängigkeit begünstigen können, wie: genetische Veranlagung, Stress, psychische Belastungen, seelische Labilität, problematischer Umgang mit Alkohol in der Familie und im Freundeskreis. Suchtentwicklung ist als dynamischer Prozess zu verstehen, der von mehreren Faktoren abhängig ist.

    An Festtagen gibt es das sogenannte Nez Rouge. Dies ist ein Taxidienst, der die Leute in ihrem eigenen Auto heimfährt, die zu viel Alkohol getrunken haben, um noch Auto zu fahren. Vermitteln solche Hilfsorganisationen nicht ein falsches Bild?
    Ja, letztlich könnte es zur Idee verleiten, dass es völlig akzeptiert ist, sich an Feiern zu betrinken. Ist es ja auch und das ist das Paradoxe. Doch sei zu bedenken, dass viele Menschen, die an Feiern zu viel trinken, kein Alkoholproblem haben. Nez Rouge ist eine Aktion, die von Bürger/innen organisiert ist und als Präventionsmassnahme zur Unfallverhütung, aufgrund reduzierter Fahrtüchtigkeit dient. Aus meiner Sicht ist dies eine gute Sache und zeigt letztlich auch auf, dass Menschen durchaus auf einen Aspekt des Themas sensibilisiert sind. Letztlich ist es ein präventiver Akt in einer Gesellschaft, in der das Bewusstsein vorhanden ist, dass eine Handlung sowieso passiert.

    Die Schweiz zeigt eine lockere Alkoholgesetzgebung. Inwiefern hat dies einen Einfluss auf die Alkoholsucht, im Speziellen auch bei jungen Menschen?
    Das Mindestalter ist ein Aspekt. Der andere Aspekt betrifft Einschränkungen des Zugangs zu Alkohol, v.a. im Jugendschutz, wo grundsätzlich die Aufklärung, die Vorbildfunktion und das Gespräch darüber wichtige Themen sind. Prohibition führt oft nicht zu der Wirkung, die wir eigentlich erzielen möchten. Die nordischen Staaten wie Island haben dabei im Vergleich Vorbildcharakter. In Island ist Alkohol beispielsweise sehr teuer und man kann es nur in bestimmten Läden, die von der Regierung betrieben werden, erwerben. Natürlich gibt es auch dort Alkoholmissbräuche, aber insgesamt eher weniger. Bei Jugendlichen ist es deswegen unterstützend, weil sie mehr Risikobereitschaft zeigen, da der Frontallappen noch nicht vollausgebildet ist. Zudem könnte mit Werbeverbot, Preisgestaltung etc. auch viel gesteuert werden.

    Was wünschen Sie sich von der Gesellschaft bezüglich der Sensibilisierung für den Alkoholkonsum?
    Der Alkohol gehört zu unserer Kultur. Gut ist, wenn sich die Menschen bewusst sind, dass Alkohol eine psychogene Substanz ist und auch zu einem süchtigen Verhalten führen kann. Ich wünsche mir, dass es in unserer Gesellschaft toleriert wird, wenn jemand nicht trinken möchte. Ich wünsche mir, dass Alkohol als Krankheit nicht tabuisiert wird und dass Menschen, die vom Alkohol süchtig werden, nicht als «selber Schuld» deklariert, sondern von der Gesellschaft unterstützt werden. Denn wir wissen alle nicht, was uns in unserem Leben noch alles widerfährt.

    Interview: Lilly Rüdel

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